Ein radelnder Reporter auf einem mittelalterlichen Weihnachtsmarkt unterwegs und auf geschichtlichen Spuren (Siegburg bei Bonn)

"Mittelhochdeutsch" sprechendes Marktpersonal und "kurzweylige" Musik- und Schauspielkunst 

 

Der älteste „Mittelalterliche Weihnachtsmarkt“ der Neuzeit in Deutschland – Organisiert vom Verein „Kramer, Zunft und Kurtzweyl“ – lockt mich auch dieses Jahr wieder nach Siegburg und enttäuscht mich auch in seinem 23. Jahr keinesfalls.

Auf meinen kurzen Reisen begegnet mir immer wieder das Mittelalter, zwar nicht das gesamte, sondern das mittlere und das späte vom 11. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts  – und leider nicht selten auch seine grauenhaften Ereignisse und Aberglauben. Wären die Zeiten jedoch ohne Einschränkung grausam gewesen, wer weiß ob es die europäischen Völker überstanden hätten. Es gab natürlich auch das Schöne: Kultur, Frohsinn und Feiern – und eben diese Aspekte werden auf dem Siegburger Weihnachtsmarkt im mittelalterlichen Ambiente hervorgehoben. Auch nach einem angenehmen und kurzweiligen Nachmittag auf diesem sehr schönen und außergewöhnlichen Markt stellt sich bei mir kein romantisch verklärendes Gefühl ein und ich bleibe dabei: mir ist ein außerordentliches Glück dadurch zuteil geworden, dass ich in unserer Zeit in Mitteleuropa hineingeboren wurde und hier ein bürgerliches Leben leben darf.

 

Diese Moderne, in der Vorweihnachtszeit geprägt durch überbordend dekorierte und gefüllte Läden in lichtdurchfluteten und geschmückten Städten,

entlässt mich ganz plötzlich in eine Welt ohne Licht, in eine Welt unbekannter Düfte und Geräusche, in eine Welt seltsam gekleideter und sprechender Menschen.

Ich durchquere die hell beleuchtete Siegburger Innenstadt, widerstehe nicht wenigen kulinarischen Angeboten sowie verführerisch dargebotenen Produkten und fühle mich von einem Moment zum anderen aus dieser mir bekannten Welt entlassen. So, wie sich jemand fühlen muss, der durch eine Zeitmaschine plötzlich in eine andere Welt hinein geschleudert wird.

Meine eben noch durch die Helligkeit verengten Pupillen erzeugen den Eindruck einer absoluten Finsternis. Sie stellen sich aufgrund des eisigen Windes an diesem Tag beinahe so langsam auf die neuen Verhältnisse ein, wie ein von Hand zu justierendes Objektiv. So erscheint recht langsam eine neue bunte Welt vor mir.

Meine eben noch von Getöse strapazierten Ohren … , nein, die brauchen sich nicht auf sensiblere Sinneswahrnehmungen umzustellen: auch unsere Vorfahren verstanden es offensichtlich ausgezeichnet, Lärm zu erzeugen. Meine immer noch feine Nase muss sich ebenso wie meine Augen auf neue, feinere Sinneseindrücke einstellen. Es duftet nach Safran, Muskatnuss, Zimt, Vanille, Gewürznelke und vielem anderen wie nach Bratäpfeln und frischgebackenem Brot sowie nach Mokka und Tee – so lässt es sich heute für Jedermann auf einem mittelalterlich gestalteten Weihnachtsmarkt leben wie es annodazumal dem Adel vorbehalten war. Der dem einfachen Pöbel zugedachte „Speiseplan“, ein aus Resten zusammengekochter Eintopf oder ein Teller voll sämigen Brei, wenn auch mit Koriander, Kümmel oder Lorbeer geschmacklich aufgepeppt, hätte mich nicht auf diesen Markt gelockt.  

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Ich lasse mich hier also gerne von den Köchen und Bäckern verleiten, an diesem Spätnachmittag zu leben „wie Gott in Frankreich“ und koste immer wieder Kleinigkeiten von rustikalen und feineren Gerichten. Auch Selbstgebackenes, wie Lebkuchen, Zimtsterne und Kekse gibt es hier reichlich – volle „bunte Teller“ sind also gesichert und damit auch die Notwendigkeit nachweihnachtlicher Fitness-Touren.

All die angenehmen, teils exotischen Gerüche konkurrieren allerdings heftig mit dem Gestank (ich bitte um Entschuldigung) der Licht und Wärme spendenden, vor sich hin glühenden Holzkohle in Tonnen und den das elektrische Licht ersetzende Fackeln. Auf diesem Markt ist Elektrizität ein Tabu, das 100%-ig eingehalten wird. Dazu kommt noch die „Odeur“ der ätzenden Glut der Schmiede. Auch ein nahe an der Natur orientiertes Leben erzeugt also Umweltprobleme. Und dies übel riechend erinnere ich die mit Tierkadavern oder Schlachtabfällen verdreckten Bäche in Oberfranken vor gut dreißig Jahren oder ein über einem Bergbach in Andorra aufgestelltes Plumpsklo. Dieser Bach in Andorra war fürwahr eingebettet in eine Landschaft besonderer Schönheit und hätte meine Ehefrau und mich beinahe gereizt, unterhalb des dann kurz darauf von uns entdeckten Plumpsklos zu baden. Oder auch die Honoratioren Nürnbergs im Mittelalter, die durch mindestens knöcheltiefen Unrat watend Könige und Kaiser entlang der „Via Triumphalis“ hinauf zur Burg (und zurück) trugen.

 

Über diese, meine Sinne in eine längst vergangene Zeit entführenden Eindrücke hinausgehend   

entdecke ich von neuem Handwerker, die vor Ort ihre Fähigkeiten zeigen und den Käufer mit selbst hergestellten alltäglich nutzbaren Gerätschaften oder Spielzeug und Dekorationsware versorgen. So gibt es an Spielzeug hölzerne Kreisel, Steckenpferde, Puppenhäuser und Ritterburgen, aber auch Schwerter und Schilde – die Welt war zu keiner Zeit friedlich. Neben handgeschöpftem Papier und Federkielen gibt es Hängematten – vielleicht für den müden Poeten. Wer schon einmal auch nur eine DIN A4-Seite mit Federkiel und Tinte geschrieben hat, weiß wie mühselig dies ist. Und für die Hausfrau (gab es denn damals auch Hausmänner?) werden hölzerne Quirle, Salatbesteck, Frühstücksbrettchen, ölbetriebene Lämpchen … und neben vielen anderen Haushaltsgegenständen natürlich Reisigbesen angeboten.

Aber was ist denn das? Die Idylle wird plötzlich durch den Büttel gestört. Ist es denn die Möglichkeit? Da hat doch tatsächlich einer der so ehrlich tuenden Händler mit manipulierten Gewichten betrogen. Beruhigend, dass hier Betrug keine Chance hat und der Übeltäter öffentlich gemacht und seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Wer weiß? Vielleicht kann er sich ja nach einer die Öffentlichkeit zufriedenstellenden Show beim Marktvogt frei kaufen. Genug eingenommen muss er ja haben.

Auch ein Bettler gehört zum Marktbild, wie seit einigen Jahren in unseren Städten – leider – immer häufiger. Wenn es hier wahrscheinlich ähnlich zugeht, wie in Berthold Brechts „Dreigroschenoper“ und Bettler und Bettlerinnen in elendigem Aussehen trainiert werden, so verbirgt sich jedenfalls ein Leben dahinter, dass sicherlich niemand von uns leben möchte. Hier zeigt eine mit elendigen Lumpen gekleidete und Hautausschlägen überzogene humpelnde Gestalt die andere Seite eines prosperierenden Marktes.

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Immer wieder werde ich dabei während meines Rundgangs von Gauklern und Musikern mit kurzweiligen oder genauer kurzweyligen Darbietungen unterhalten. Diesen war sichtbar keine Mühe zu viel gewesen:  nicht nur die Kostüme wurden in Handarbeit selbst hergestellt, auch für die Musikinstrumente gilt dies – und dies ist am Klang erkennbar. Wenn heute auch nicht Originaltöne und –gesang bekannt sein können, so versuchen die Künstler doch so nahe wie möglich ans Original heran zukommen. Möglicherweise ebenso kompromissbereit wie das Marktpersonal Mittelhochdeutsch spricht: der heute lebende Deutsche soll`s halt noch verstehen können.

So bietet auch der diesjährige Mittelalterliche Markt in Siegburg eine schöne Abwechslung im Vergleich zu all` den anderen Weihnachtsmärkten. Diese sind – soweit ich sie kenne, allesamt liebevoll gestaltet, aber eben anders. Und hier in Siegburg nehme ich wahr, dass die Organisatoren und Gestalter dieses Marktes auch nach 23 Jahren nichts an ihrem Elan und ihrer Freude verloren haben.

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