Roman über das „Bonner Politiktheater“ im November 1972

 „Rheinblick“ von Brigitte Glaser

führt uns zurück in die Bonner Republik des Jahres 1972, als die Mehrheit der sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP durch Mandatswechsel von Abgeordneten schwand. Das politische Geschehen hatte mich auch damals sehr interessiert. Nein vielmehr als interessiert: ich war begeistert von Willy Brandts Versprechen „mehr Demokratie wagen zu wollen“ und auch von seiner demütigen Geste, seinem Kniefall am Ehrenmal für die Ermordeten des Warschauer Ghettos.

Endlich schien auch auf politischer Ebene die Zeit vorbei zu sein, in der die Bundesrepublik Deutschland dominiert wurde vom alten deutschnationalen Geist und der Prüderie der Adenauer-Ära – so die Wahrnehmung von vielen meiner Altersgenossen und mir.

 

„Rheinblick“ bekam ich zum Geburtstag geschenkt – ein tolles Geschenk.

In der ersten freien Stunde nach dem Geburtstagstrubel griff ich nach dem Buch, begann zu lesen, behielt es in der Hand und verlor mich in meiner Jugendzeit.

 

„Rheinblick“ – eine fiktive Gaststätte, in der die damalige Politikprominenz und weniger Prominente sowie auch der „einfache“ Bürger nach getaner Arbeit den Tag ausklingen ließen – und seine Wirtin sind der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Der Roman verknüpft zwei Handlungsstränge sowie tatsächlich Geschehenem mit Fiktivem. Lokale, wie den „Rheinblick“ gab es auch in der Realität, und während meiner Berufstätigkeit in Bonn trafen wir dort nicht selten auf privatisierende führende Politiker. Mancher, ob Wirt oder Wirtin, Koch oder Köchin, profitierten damals sehr von den drei hauptsächlichen Qualifikationen eines Politikers: „zuhören, lesen und kauen können“ (Zitat aus einem Film über den Politikbetrieb); denn wer ein angenehmes Ambiente und schmackhaftes Essen bieten konnte, brauchte sich über leere Gasträume keine Sorgen zu machen.

 

Im Mittelpunkt des einen Handlungsstrangs befindet sich Willy Brandt, der wegen eines Stimmbandproblems (real) nicht mehr sprechen konnte, sich einer Stimmbandoperation (fiktiv) unterziehen musste und deshalb an den Koalitionsverhandlungen nach der gewonnen Wahl im November 1972 nicht teilnehmen konnte. Während seines Krankenhausaufenthaltes (fiktiv) steuert er über seinen Kanzleramtsleiter Horst Ehmke die Koalitionsverhandlungen. Die Auseinandersetzungen zwischen Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt, die Intrigen innerhalb und zwischen den rivalisierenden Parteien und Abgeordneten sind sehr realitätsnah und spannend beschrieben und bringen das damalige Geschehen wieder gut ins Gedächtnis zurück.

 

Aus dem "Willy Brandt-Forum" der Bürgerstiftung Unkel (am Rhein)

1_Der Abgeordnetenstuhl (Platz Nr. 5) von Willy Brandt aus dem alten Plenarsaal Bonn
1_Der Abgeordnetenstuhl (Platz Nr. 5) von Willy Brandt aus dem alten Plenarsaal Bonn
2_Der private Arbeitsplatz von Willy Brandt
2_Der private Arbeitsplatz von Willy Brandt
3_Willy Brandt
3_Willy Brandt
5_Fest zum 75. Geburtstag von Willy Brandt im Januar 1989, ausgerichtet vom Bundespräsidenten Richard von Weizecker in der Villa Hammerschmidt
5_Fest zum 75. Geburtstag von Willy Brandt im Januar 1989, ausgerichtet vom Bundespräsidenten Richard von Weizecker in der Villa Hammerschmidt
4_Willy Brandt und Leonid Breschnew im Mai 1973
4_Willy Brandt und Leonid Breschnew im Mai 1973




Im zweiten Handlungsstrang geht es um den Tod eines jungen Mädchens. Scheinbar verknüpfen sich beide Handlungsstränge durch Protagonisten aus dem Abgeordnetenumfeld und Recherchen von Mitgliedern einer Wohngemeinschaft. So umfasst „Rheinblick“ einen Politikkrimi und einen Kriminalfall, die sich zwischenzeitlich überlagern.  

 

Interessant ist auch das Lokalkolorit, das nicht nur das Bonn der damaligen Zeit prägte, sondern ebenso auch in anderen deutschen Städten vorzufinden war: massive innerstädtische Verkehrsprobleme durch U-Bahn-Baustellen sowie durch Altbau-Viertel, die von Wohngemeinschaften und politisch eher links orientierten jungen Menschen bewohnt wurden. Hier im konkreten Fall das Viertel um die Dorotheenstraße in Bonn-Altstadt, heute vorzugsweise bewohnt von Akademiker-Haushalten, die eher den Grünen zugeordnet werden können. Damals hingen aus Fenstern manche rote Fahnen, heute Flaggen in Regenbogenfarben (heißt, der Mensch ist vielfältig).

 

Mir hat das Buch „Rheinblick“ sehr gut gefallen, und seine Lektüre hat mich motiviert, endlich auch das „Willy-Brandt-Haus“ in Unkel (15 km südlich von Bonn) zu besuchen, nachdem ich gefühlt hundertmal daran vorbeigeradelt bin. Aus dem Willy-Brandt-Haus stammen auch die Fotos, die ich mit freundlicher Genehmigung des Museums veröffentlichen darf.

Für diejenigen, die nochmals (oder erstmals) in das Lebensgefühl der Zeit um 1968/1972 eintauchen möchten oder Einblick in das Politikgetriebe gestern wie heute nehmen wollen, kann ich „Rheinblick“, erschienen im List-Verlag (ISBN 978-3-471-35180-2), guten Gewissens empfehlen.