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Ein "Freistaat" im Südosten Deutschlands für freie BürgerIn den letzten Wochen befand sich der Freistaat Thüringen im Mittelpunkt der deutschen Inlandsnachrichten – nicht aus touristischen, sondern aus politischen Gründen. Eine Koalition aus „Die Linke“, „SPD“ und „Bündnis 90/Die Grünen“ nahm sich die Freiheit, einen„Linken“ zum Ministerpräsidenten zu wählen. Das Bundesland mit dem Zusatz „Freistaat“ in seinem Namen, das war für mich immer Bayern. Nun werde ich daran erinnert, dass auch Thüringen und Sachsen diesen Namenszusatz tragen. Es war mir entfallen. Dabei muss ich doch auf meinen Reisen mit meiner Familie nach Thüringen – meine Schwiegermutter lebte in Coburg – doch immer wieder Schilder mit dem Aufdruck „Freistaat Thüringen“ passiert und wahrgenommen haben. Wie kommt Thüringen zu diesem Zusatz? Was bedeutet „Freistaat“? Ich lerne, dass diese Bezeichnung im 18. Jahrhundert in Anlehnung an die Bezeichnung der Römischen Republik (libera res publica) oder an die „freien Reichsstädte“ usw. in Deutschland in Mode kam, um Staatsformen zu bezeichnen, die nicht von Monarchen regiert wurden. Der „Freistaat Thüringen“ selbst existiert seit dem 01. Mai 1920 durch Zusammenschluss von sieben kleineren thüringischen Freistaaten. Noch heute erinnern an diese ehedem selbständigen kleinen Staaten sieben Sterne auf dem Landeswappen. Sieben? Nein, es sind nicht mehr nur sieben, sondern seit 1945 acht silberne Sterne. Der achte Stern erinnert an preußisches Gebiet, das nach dem 2. Weltkrieg im Zuge der Neuordnung Deutschlands und der Aufteilung Preußens in das Land Thüringen eingegliedert wurde. Trotz seiner geografischen Nähe (und nach meiner Wahrnehmung als Rheinländer auch sprachlicher und somit kultureller Nähe) zu Thüringen schloss sich der damalige „Freistaat Coburg“ 1920 letztlich Bayern an. Ursprünglich fungierte nicht Erfurt als Landeshauptstadt, sondern mit Gründung des Landes Thüringen nach der deutschen Novemberrevolution von 1918 Weimar. Warum auch immer, vielleicht habe ich es bei meinem ersten Besuch Weimars um 1991 gelesen und dann in meiner Erinnerung falsch „abgespeichert“: spontan hätte ich auch heute noch auf Weimar – die „Goethe-Stadt“ – als thüringische Hauptstadt getippt und nicht auf Erfurt. Die glanzvollen Zeiten und der Stellenwert Weimars sind eben nicht zuletzt durch Goethe im allgemeinen Gedächtnis verfestigt. Bereits im November 1572 erlangte Weimar politische Geltung, als die Stadt mit Umsetzung der „Erfurter Teilung“ zur Hauptstadt des neuen Herzogtums Sachsen-Weimar erhoben wurde. Jenes Herzogtum war übrigens der erste Staat in Deutschland, der sich eine Verfassung gab (1816). Thüringen verlor später, mit der Neugliederung der DDR im Jahre 1952, faktisch seine Funktion als „Freistaat“ und wurde konsequenter Weise 1958 auch staatsrechtlich aufgelöst. Erfurt, von 1802 bis 1945 eine preußische Stadt, wurde nach der Neugründung Thüringens im Jahre 1991 von den Abgeordneten des Landtags zur Landeshauptstadt gewählt. Das Ergebnis der Abstimmung war dabei recht knapp: für Erfurt votierten 49 der 88 Landtagsabgeordneten, also etwa 56 %. Ein dennoch nicht ganz überraschendes Ergebnis, bildete Erfurt doch bereits im Mittelalter das Zentrum des Thüringer Raumes, obwohl es politisch nicht zu den Thüringischen Ländern gehörte. Menschen formen eben unabhängig von politischen oder verwaltungsmäßigen Grenzen und Vorgaben dem Gesetz der Einfachheit folgend ihre eigenen Strukturen. Vielleicht banal, aber moderne Landschaftsarchitekten bauen Wege durchaus erst dann, wenn durch Trampelpfade ersichtlich wird, welche Wege der Mensch bevorzugt. Dies sind meistens die kürzeren und bequemeren Alternativen, um von einem Ort zum anderen zu kommen. So waren auch die Wege der Thüringer nach Erfurt ökonomischer als die nach Weimar. Ich erinnere mich, dass wir 1991 mit dem PKW etwa vier Stunden benötigten, um von Coburg nach Weimar zu gelangen: wie entsetzlich lange sind wir hinter einem von einem bemitleidenswerten Gaul gezogenem Fuhrwerk gefahren, kilometerweit bergauf. Erst seit Mitte der 1990er Jahre gibt es die die natürlichen Hindernissen überwindenden schnellen Verkehrswege nach Weimar. Ein Stückchen Land zwischen einem halben Halb-Dutzend Gewässern und ein kurzzeitiges Bistum. Seiner verkehrsgünstigen geografischen Lage zwischen den Flüssen Gera, Nesse und Gamme verdankt „Erphesfurt“seine Entwicklung als Siedlung und dem strategischen Genie des Missionsbischofs Bonifatius die Gründung des Bistums mit Bischofssitz ebendort. Erstmals urkundlich wird „Erphesfurt“ 742 in einem Brief des Missionars und Benediktinermönches Bonifatius erwähnt, mit dem er Papst Zacharias (Papst von741 bis 752) bat, hier ein Bistum gründen zu dürfen. Bonifatius (Geburtsname Wynfreth, geboren um 673 im Südwesten Englands, gestorben 05. Juni 754 in den Niederlanden) wurde am 15. Mai 719 von Papst Gregor II. (Papst von 715 bis 731) beauftragt, Germanien zu missionieren. Zeitweilig arbeitete Bonifatius mit dem Missionar Willidrord (geboren um 658 in England, gestorben 07. November 739 in Luxemburg, Echternach) zusammen, zum Beispiel bei der Missionierung Frieslands. Nach einem Zerwürfnis zwischen beiden, unternahm Bonifatius ab 721 Expeditionen nach Bayern, Sachsen, Thüringen und Hessen. Hier fand er eine Durchmischung von bereits christianisierten und „heidnischen“ Gebieten vor. Neben anderen herausragenden Leistungen als Gelehrter und Missionar in England, dem ostfränkischen Reich und Frankreich gründete er mehrere Klöster, arbeitete entscheidend an einer Kirchenreform in Frankreich mit, war ausschlaggebend an der Reorganisation der Kirche im ostfränkischen Reich beteiligt, erarbeitete eine neue lateinische Grammatik und fällte Eichen (siehe Lüdinghausen; Münsterland) – manchmal stelle ich mir die Frage, was jemanden befähigt so viel leisten zu können, für das „normalerweise“ mehrere Leben notwendig wären. Der heilige Bonifatius, auch „Apostel der Deutschen“ genannt, gründete 742 also das Bistum Erfurt, dass allerdings bereits 755 mit dem Bistum Mainz zusammengelegt wurde.
Freie Fahrt mit nicht ganz historischer, aber an die Jugendzeit erinnernde alte Straßenbahn durch Erfurt. Wenn auch sonst gerne per pedes oder Tourenrad unterwegs, kann ich nicht umhin, mich mit einer alten Straßenbahn (Foto unten) zu einigen Sehenswürdigkeiten des weltlichen Erfurt kutschieren zu lassen. Mit dieser schon nicht mehr kutschenförmigen Bahn, die zudem auch bei weitem nicht so laut war, wie deren tschechische Konkurrenz (Tatra) selben Jahrgangs, lasse ich mich quer durch Erfurt fahren, unter anderem am Helios Klinikum und dem Steigerwaldstadion vorbei. Das Steigerwaldstadion wurde1931 eingeweiht und ist unzertrennbar mit der Sportgeschichte Erfurts verbunden. Nicht nur, dass der hier ansässige Fußballclub (SC Turbine Erfurt, seit 1966 FC Rot-Weiß Erfurt – das sind ja auch die Farben des 1. FC Köln, Meisterschaften 1962 und 1964) in den Jahren 1954 und 1955 die DDR-Fußballmeisterschaften gewonnen haben, sondern auch durch viele andere herausragende Ereignisse, wie zum Beispiel die Austragung der deutschen Leichtathletik-Meisterschaften 1994, 1999 und 2007. Mit EU-Fördermitteln wird dieses betagte Stadion zurzeit in eine Multifunktionsarena für Fußball, Leichtathletik und Großveranstaltungen umgebaut (geplanter Fertigstellungstermin in 2015). Die Geschichte der Helios-Kliniken bzw. der damals noch konfessionell ausgerichteten Vorgänger-Krankenhäuser geht bis auf das Jahr 1880 zurück. Später, einhergehend mit dem Wachstum der Stadt wurden die Kliniken gegründet und in Bezug auf die medizinischen Fachbereiche und deren Kapazitäten Zug um Zug ausgebaut. Ihren Höhepunkt erreichten diese Kliniken ab dem Jahr 1954 als sie zur „Medizinischen Akademie Erfurt“ (eine Hochschuleinrichtung mit Promotions- und Habilitationsrecht) erhoben wurden. Neben zahlreichen anderen bekannten Hochschullehrern der Erfurter Akademie, arbeitete hier in den 1950er Jahren Fritz Markwardt, dem die Isolierung und neue Erkenntnisse über die Wirkung des Hirudins gelang (Hirudin ist der Bestandteil des Speichels des Blutegels mit den blutgerinnungshemmenden Eigenschaften).
Viel Schönes gibt es inErfurt zu sehen und zu erleben – und dementsprechend werden vom Tourismusbüro der Stadt Erfurt zahlreiche und themenbezogene Stadtführungen angeboten (weitere Informationen unter www.erfurt-tourismus.de) – warum sonst hätten die „Bremer Stadtmusikanten“ nicht nur in Riga vor der Petrikirche, in der Harvard University in Cambridge (Massachusetts), sondern auch in Erfurt vor dem Waidspeicher ihre Spuren hinterlassen. |
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