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Normandie und Bretagne (Nord)
Teil 1, Normandie Phantasieanregende Felsformationen und Kieselsteine bei Étretat und fromme Mönche auf einer Felseninsel.
Auf dem Weg in die Bretagne habe ich zu oft die Normandie rechts liegen lassen, trotz ihrer nicht nur touristisch attraktiven Flecken. La Falaise d`Étretat, Villerville, Mont-Saint-Michel: das sind nur wenige der Sehenswürdigkeiten auf dem Weg entlang des „Ärmelkanals“ in die Bretagne. Gereizt hatte es uns, entlang des auf einem alten Bahndamm angelegten Fahrrad-Wanderweges von Paris aus über Chartres zum Mont-Saint-Michel zu radeln (für Interessierte: „Véloroute Paris – Mont-Saint-Michel“). Abgeschreckt hatte uns letztendlich die Aussicht, mehr als 250 Kilometer lang gegen den Wind zu radeln. So fiel unsere zweite Wahl auf eine Tour entlang der „Route du Fromage“ (Normandie). Beim zweiten Hinsehen entpuppte sich diese Idee allerdings als „Autotour“. Schließlich fiel unsere Wahl auf eine Tour von Étretat über Le Havre, Caen, Mont-Saint-Michel nach Saint-Malo. Dennoch, als Käseliebhaber unternahmen wir während unserer Anfahrt nach Étretat einen Abstecher ins Städtchen Neufchatel en Bray. Neufchatel en Bray ist ein wirklich „verschlafener“ kleiner Flecken, der durch seinen Käse in Herzform bekannt geworden ist. Hier halten wir uns nicht länger auf als beabsichtigt, zumal uns unsere Liebsten auch nicht mit dem weichen Käse in Herzform überraschten, wie es einer Geschichte nach die jungen Damen des Ortes während des Hundertjährigen Krieges gepflegt haben sollen. Angekommen in Étretat quälen wir uns durch den Touristenverkehr bis zu unserer Unterkunft, einer kleinen, etwas außerhalb gelegenen heimeligen Pension. Von dort begeben wir uns per pedes zur Küste, um die berühmten Formationen, die das Wasser mit unermüdlicher Ausdauer in die Kreidefelsen gewaschen hat, mit eigenen Augen zusehen: ein wahrhaft einmaliger, imposanter Anblick. Warum jedoch der deutsche Lektor den Thriller „Les galets d’Étretat“ übersetzte mit „Die Liebenden von Étretat“, entzieht sich meiner Phantasie, hat das Werk doch gar nichts mit Liebe im wahren Sinne des Wortes zu tun. Nun gut, „Die Kieselsteine von Étretat“ hätten auch keinen Deutschen zum Kauf des Buches verführt oder zum Ansehen der Verfilmung (1971) ins Kino gelockt. Trotz dieser Ungereimtheit stellt sich bei uns sofort die Assoziation ein, den „Liebenden“ zu begegnen, als wir der schnäbelnden Turteltauben ansichtig wurden – schnell die Kamera gezückt – und Glück gehabt, zu vertieft waren die beiden, als dass sie uns bemerken konnten und sodann schreckhaft weggeflogen wären. Bevor wir uns am folgenden Morgen per Rad auf den Weg machen (unser Auto bleibt für die Zeit unserer Fahrradtour hier stehen) lassen wir uns noch von unseren Gastwirten mit normannischen Spezialitäten verwöhnen und genießen die Käseplatte und den Calvados in Maßen – nicht in Massen – haben wir doch anstrengende Tage vor uns, selbst dann, wenn wir in Caen kurz auf den Zug umsteigen werden.
Eine „Kathedrale“ der Neuzeit: die „Pont de Normandie“ inmitten einer Mönche, Künstler und Architekten inspirierenden Landschaft. Die gut 130 Kilometer von Étretat nach Caen teilen wir in zwei Etappen auf. Auf halber Strecke ist dann Schieben angesagt, nicht nach dem Motto „Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt!“, sondern vielmehr unserer Kniee und Muskeln zuliebe; denn die „Pont de Normandie“ bei Le Havre hat es in sich. Es handelt sich hierbei um die größte Schrägseilbrücke Europas mit einer Gesamtlänge von 2140 Metern und einer Höhe von 203 Metern, fertiggestellt 1994, ästhetisch anzuschauen, ein wahres Kunstwerk begnadeter Architekten und Ingenieure. Allerdings verlässt uns unsere Begeisterung zusehends, während wir vollgepackte Räder auf dem schmalen Radweg – nur durch einen weißen Streifen vom vorbeibrausenden Autoverkehr getrennt – hinauf schieben und beim Herunterfahren Sorge haben, unsere Bremsen könnten versagen, geschweige von der Angst, Autofahrer oder wir könnten von der Spur abkommen. Beides stellt Herausforderungen an den menschlichen Willen nach (beinahe) ekstatischer Hingabe und Meditation: wie beim Klosterleben Gebet, Askese, Fasten und Arbeiten, so beim Fahrradreisen das Schieben schwer bepackter Räder. Genießt der im Kloster Lebende die Nähe zu seinem Gott, genießt derjenige auf dem Scheitelpunkt der „Pont de Normandie“ den Blick auf Le Havre und in „Gottes weite Natur“. Wir übernachten in Villerville-sur-Mer, einem kleinen Fischerdorf an der „Blumenküste“, das schon die Maler Corot, Vuillard und der Komponist Roussel seiner Ruhe und Beschaulichkeit wegen schätzten. Vor dem Abendessen gehen wir zum Strand (Ausgleich für die vernachlässigten Muskeln), blicken zurück, genehmigen uns einen Calvados. Le Havre gegenüber gelegen, gibt uns dieser Ort noch einmal den Blick frei zur architektonischen „Kathedrale“, deren beiden Spitzen jetzt von tiefhängenden Wolken touchiert werden. Dann geht`s zum Essen. Unser Restaurant war nicht ganz so farbenprächtig wie der Frühstücksraum, den Vuillard in seinem Bild „Petit Dejeuner à Villerville“ dargestellt hat, es war eher nüchtern ausgestattet, bot aber ein ähnlich heimeliges Ambiente. Am nächsten Tag radeln wir die Küste entlang und am Ufer der Orne bis Caen, wo wir den Zug nehmen, um uns nach Avranches bringen zu lassen. Im Laufe der etwas weniger als zwei Stunden im Zug stellen wir Vergleiche an zwischen der Französischen Staatsbahn und dem Nachfolger der ehemals deutschen Staatsbahn, der Deutschen Bahn AG. Nun, um es kurz zu machen, die staatliche SNCF kann bezüglich Freundlichkeit des Personals, Modernität des „rollenden Materials“ (DB-Terminus), Sauberkeit und Pünktlichkeit durchaus als Vorbild für die deutsche Aktiengesellschaft dienen. Meine Schlussfolgerung: Staatsbedienstete können das, was von „privaten Managern“ erwartet wird (häufig) schon lange und besser.
Himmlische „Arbeitsteilung“ führte zu so manchen kulturellen Schätzen – hier zum „Mont-Saint-Michel“. Forderten in Engelberg (Schweiz) himmlische Heerscharen den Bau eines Klosters, so engagierte sich hier in der Basse-Normandie der Erzengel Michael persönlich. Zumindest, wenn die Legende zutrifft, nach der im Jahre 708 der Erzengel Michael dem Bischof Aubert von Avranches (Gedenktag des Heiligen 10. September) erschien und ihn aufforderte, hier eine Kirche zu errichten. Das anfänglich recht einfach gehaltene Sakralgebäude ersetzten Benediktinermönche im 10. Jahrhundert durch die repräsentative Abtei Saint-Wandrille. Die Arbeiten bis zur Fertigstellung des Gesamtkomplexes dauerten über 500 Jahre (waren hier Kölner oder Berliner am Werk?). In der Blütezeit der Abtei umfasste deren Grundbesitz beinahe 4.300 Höfe und 28 Mühlen. Auch wurde hier im Jahre 996 die Hochzeit zwischen dem zweiten Herzog der Normanne, Richard II. (genannt der Gute) und der Bretonin Judith de Bretagne gefeiert. Während des 100-jährigen Krieges, der infolge von Erbstreitigkeiten zwischen England und Frankreich ausbrach, wurden Berg und Kloster zu einer Festung ausgebaut. Es folgten Belagerungen während der Hugenottenkriege und etwa 200 Jahre später die Auflösung des Klosters durch die französischen Revolutionäre. Danach diente das Kloster zweckentfremdet als Gefängnis – das Kloster Michaelsberg Siegburg zeigt eine ähnliche Geschichte auf – und seit Mitte der 1960`er Jahre Wiederbesiedlung durch Benediktinermönche. Nachdem diese das Kloster mangels Nachwuchs aufgeben mussten, übernahm eine klösterliche Gemeinschaft von Priestern, Mönchen, Brüdern, Schwestern und Laien (nach Kirchenrecht eine „apostolische Gemeinschaft“) namens „Fraternité Monastique de Jérusalem“ den Komplex. Natürlich ist diese im Wattenmeer befindliche, gut 90 Meter hohe malerische Insel ein beliebtes Besucherziel und Postkartenmotiv, der Touristen-Magnet der Basse-Normandie. Nicht zu Unrecht! Von weitem bei Tag und Nacht, von oben aus der Luft: der Mont-Saint-Michel gibt dank seiner ästhetischen Bebauung `was her – und der Blick von dort in das Wattenmeer und in Richtung Küste lassen die Seele baumeln.
Teil 2, Bretagne (1 von 2) Phantasieanregende Ruinen, Felsformationen an der Côte de Granit Rose und eine stets angenehm temperierte kleine Insel.
Einen „Katzensprung“ westlich des Mont Saint Michel gelegen befindet sich die im zweiten Weltkrieg beinahe vollständig zerstörte mittelalterliche Stadt Saint-Malo. Hier beginnt die Bretagne und unsere Reise die Küste entlang. Den Abend zuvor haben wir uns in einer typischen bretonischen Crêperie mit lecker gefüllten, herzhaften, aus Buchweizenmehl gefertigten Galettes, Cidre und zum Nachtisch süßen Crêpes bei café noir gestärkt und sind dann in der nahe gelegenen Pension, die ihre angemeldeten Gäste mit Flaggen ihrer jeweiligen Heimatländer signalisiert, dass sie dort richtig sind, in tiefen Schlaf gefallen. Die Stadt Saint-Malo entwickelte sich aus der gallischen Siedlung Aleth. Im 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung wurden Teile der Bretagne, so auch die Region um Saint-Malo durch den Mönchen und Bischof von Aleth, namens Machutus, missioniert. In Gedenken und Verehrung von Machutus wurde die Stadt nach ihm benannt – aus „Machutus“ wurde Malo. Eine Stadt an solch strategischer und geschützter Stelle erlebt natürlich in ihrer Geschichte alle denkbaren Höhe- und Tiefpunkte, prosperierende Wirtschaft und Krieg, Belagerungen, Not. Der absolute Tiefpunkt jedoch war die beinahe vollständige Zerstörung der Stadt durch die alliierte Luftwaffe im August 1944. Weil sich der deutsche Kommandant Andreas von Aulock weigerte, zu kapitulieren und die massiven mittelalterlichen Festungsmauern selbst der alliierten Artellerie standhielten, griffen schließlich deren Bombergeschwader massiv ein. Saint-Malo wurde originalgetreu wieder aufgebaut und zählt heute zu einer der meist besuchten Touristenorte Frankreichs. Der Stadt und deren Festungsmauern sieht jedoch selbst der Laie an, dass diese nicht mehr original mittelalterlichen Materials sind. Erwähnenswert ist gleichermaßen, dass sich das 1967 in Betrieb genommene und zu dieser Zeit größte Gezeitenkraftwerk der Welt ganz in der Nähe befindet, an der Mündung des Flusses Rance. Nach einer kurzen Stippvisite in dieser heute leider etwas künstlich wirkenden Stadt machen wir uns auf nach Roscoff, wo wir uns einige Tage aufhalten werden – als Motivator in gleicher Weise die Aussichten auf einen Besuch der stets angenehm temperierten und aller Wetterunbill trotzenden Île de Batz vor Augen. Roscoff erreichen wir entlang einer „Voie verte“; es liegen aber noch etwa 200 Kilometer oder vier Tagereisen vor uns.
Von Ruinen geht ein besonderer Reiz aus – dies inspirierte selbst den „Ruinenbaumeister“ von Herbert Rosendorfer. Bei Paimpol reizt es uns, die etwa zwei Kilometer südöstlich gelegene Ruine der Abbaye du Beauport zu besuchen. Wie es der Name schon ausdrückt, „Beauport“ deutet auf einen besonders schönen, direkt am Wasser gelegenen Flecken hin. Wir stromern durch das auf einem Hügel gelegene alte Gemäuer der Kirche im Stil anglo-normannischer Gotik, von der nur noch Außenmauern und die Krypta erhalten sind. Mit Blick aufs Meer machen wir uns mit der Geschichte der Abtei vertraut. Gegründet im Jahre 1202 von Mönchen des Prämonstratenser-Ordens, entwickelte sich die Abtei in religiöser und obendrein in wirtschaftlicher Hinsicht blendend. Dieses regionale religiöse Zentrum, von wo einer der Pilgerpfade nach Santiago de Compostela startete, ging im Zuge der Revolutionskriege unter, nachdem die Mönche vertrieben und die Abtei im Jahre 1790 geschlossen wurden. Heute befindet sich die Abtei, von der noch einige Säle erhalten sind, in Privatbesitz. Seit 1992 aufgenommen in der Liste des französischen Kulturerbes, ist sie zur Besichtigung frei gegeben. Zudem finden in den restaurierten Sälen und den Gärten öffentliche Veranstaltungen statt. Da entwickelte sich in mir der Gedanke, ob letztendlich nicht doch Kreativität, wenn auch destruktive (ein Widerspruch?) nötig war, eine solch schöne Ruine hervorzubringen. Wandelte wohl in den späten 1960`er-Jahren genauso wie wir der bayerische Jurist und Schriftsteller Herbert Rosendorfer in diesen Gemäuern und ließ sich hier zu seinem Roman über wallfahrende Nonnen und dem Ruinenoberbaurat inspirieren („Der Ruinenbaumeister“, dtv, ISBN 3-485-00366-2)?
Ein „Freilichtmuseum“, ganz aus wild durcheinander gewirbelten, aber gleichfalls von Menschenhand geordneten Steinen und Felsbrocken. Sind andernorts in der Regel Engel, Erzengel oder gar der Teufel am Werk gewesen, wenn uns Naturwunder oder architektonische Besonderheiten begegnen, so bestaunen wir hier die Landschaft, von der es keine derartige Legende gibt. Zumindest kann ich keine derartige recherchieren, es sei denn die Geschichte von Asterix und Obelix, die Dank Zaubertrank in der Lage waren, wuchtige Steine und Felsbrocken zu ordnen. Hieran der Côte de Granit Rose ziehen die massenhaft vorkommenden Gesteinsformationen meine Aufmerksamkeit auf sich. Mit einiger Phantasie lässt sich vorstellen, hier hätten Künstler gewirkt oder frühzeitliche Naturwissenschaftler mechanische Grundlagen experimentell erforscht. Ähnelt ein Steine-Ensemble im Wasser einem Walfisch, ein anderes aufeinander gestapelten Kartons, so sehen weitere aus, als ob es versucht worden und geglückt wäre, wuchtige Riesenexemplare auf jeweils kleine, spitze Steine zu legen und so auszurichten, dass sie eben noch in der Balance bleiben. So fasziniert von diesen durch unermüdlichen Wechsel von Ebbe und Flut ausgewaschenen Formationen, ziehen wir unsere Runde auf einem Teilstück eines früheren Schmugglerpfades. Oder war es ein Weg der Zöllner und Grenzpolizisten? Egal, beide Berufsgruppen waren hier gleichermaßen unterwegs: die Schmuggler, weil England über dem Kanal so nahe liegt und die Natur hier genügend Verstecke bereit hält und die Bediensteten des Staates, um eben den anderen ihr „Handwerk“ so schwer wie eben möglich zu bereiten. So bietet diese Strecke heute dem Touristen die Möglichkeit, inmitten einer wilden Naturlandschaft zu wandern und jungen Künstlerinnen, übend und ungestört das wilde Wasser auf Papier zu bannen. Der Schönheit der von der Natur geschaffenen Werke stehen die religiös inspirierten Artefakte in nichts nach. So bewundere ich die filigran wirkenden Kalvarienberge, die zumeist die Innenhöfe von Kirchen schmücken, dann ebenso mitten in der Landschaft auftauchen können. In dem selben Maße würdige ich die Werke unserer Urahnen, die vor gut 7.000 Jahren Monolithe aufstellten (genannt „Menhire“ = „aufgerichtete Steine“) und in „Reih und Glied“ oder im Kreis anordneten und Dolmen (bretonisch „Tische“), die in der Tat riesigen Tischen ähneln und wohl als Grabkammern dienten. Zum Teil wurden, lese ich, Dolmen aus absichtlich umgestürzten Menhiren gebildet. So übernimmt häufig die eine Kultur Elemente der vorhergegangenen, wie auch während der Christianisierung Menhire mit christlichen Symbolen versehen wurden. Den größten und prächtigsten „Hinkelstein“ (abgeleitet von „Hünenstein“ = Riesenstein), den gut 9,5 Meter hohen „Menhir du Champ-Dolent“ betrachten wir genügsam auf einem Foto – er war leider viel zu weit östlich unserer Route gelegen, etwa acht Kilometer vom Zentrum der Stadt Rennes entfernt, aber die lag weder auf der Hinreise noch auf der Rückfahrt (per SNCF) auf unserer Route.
Teil 3, Bretagne (2 von 2) Vom Sonnenbad in der Badehose unter Palmen bis zur tosenden Gicht im „Friesennerz“ im Sauseschritt. Zur Abwechslung wünschten wir uns Wärmezufuhr von Außen und nicht durch Muskelkraft beim Radeln. Also verweilen wir nicht lange in unserem nächsten Domizil, das an diesem Tag verregnete Roscoff, und lassen uns zum Freiland-Sonnenbad auf die Île de Batz übersetzen. Die Stadt Roscoff, den ehemaligen Standort von Schmugglern und staatlich lizenzierten Seeräubern können wir noch später besichtigen. Es ist Ebbe und wir benötigen deshalb zu Fuß bis zum Ende des Anlegestegs doppelt so viel Zeit als unsere Fähre, die uns innerhalb von 15 Minuten in eine andere Welt bringt, ins Sonnenparadies Île de Batz. Auf dem Weg bestaunen wir die großen Fähren, die unweit im Hafen ankern und deren Ziel eine andere bretonische Insel ist: Britannien. Wir erleben einen ruhigen Tag auf dieser Insel mäandernd durch die kleinen Gässchen des Ortes, den Wiesen, den Gärten, zum Leuchtturm, rundherum, stärken uns in einem der kleinen Crêperies mit Galletes und Cidre, liegen in der Sonne, mäandern von Neuem die üppige Vegetation der Insel genießend und nehmen plötzlich einen Geruch wahr, der gar nicht der angenehmen Kategorie „Odeur“ zuzuordnen ist, sondern anders französisch. Einen Geruch, den ich auf meinen Reisen durch verschiedene französische Provinzen so häufig wahrgenommen habe, auch im kleinen malerischen Flecken Saint Pardoux – eine Kirche, ein Bar-Tabac, eine Boulangerie, ein Office de Poste und ein halbes Dutzend Häuser – den Gestank verbrennenden Kunststoffes. Nicht wenige Franzosen finden gar nichts dabei, Abfälle – und darunter kann auch Kunststoff sein – im offenen Feuer zu verbrennen. Der Ehrlichkeit halber sei angemerkt, dass diese Methode der Abfallbeseitigung auch deutschen Landsleuten so fremd nicht ist. Hier auf der Île de Batz sehe ich die landschaftlich schönste Müllkippe meines Lebens. Das turbulente Treiben der Möwen hätte uns schon von weitem stutzig machen sollen. Deren Gespür für irgendetwas Verwertbares hatte sie in Massen zu dieser in einer Talsenke angelegten Deponie geführt.
Ein altes Geschäftsmodell, das den Finanzbedarf moderner Staaten nicht mehr decken könnte, oder? Roscoff, ehedem Stadt der Korsaren, heute maritimes „Tor“ zu Great Britain und westliches Ende eine stranseuropäischen Radwanderweges. Korsaren, das waren Seeräuber, Piraten mit staatlicher Lizenz („La lettre de course“) und diese haben über Jahrhunderte hinweg den Reichtum der Stadt vergrößert und den Haushalt des Staates nach einem vertraglich genauestens festgelegten Schlüssel entlastet. Beim Studium des Geschichte der Stadt Roscoff kreuzen uns unter anderem bekannte Korsaren, wie die „Tigerin der Bretagne“ Jeanne de Belleville (geboren 1300, gestorben 1359) und dem „Baskischen Fuchs“ Étienne Pellot (geboren 1765, gestorben 1856). Auch heute noch lebt Roscoff gut, wenn auch durch eine bedeutend mildere Form des Seehandels. Hier verkehren Fähren nach Plymouth, die der Reederei Brittany Ferries in der Hauptsaison dreimal täglich und die der Irish Ferries nach Dublin jedoch selten. Es macht Spaß durch Roscoff zu wandeln, die malerischen Gassen und ihre Bauten in ihrer mittelalterlichen Pracht auf sich wirken zu lassen und ein schönes Monument des Christentums, die Kirche „Notre-Dame de Croaz-Batz“ inmitten ihres umfriedeten Grundstücks mit Kalvarienberg – ein Ensemble, wie es so häufig in der Bretagne zu finden ist. Nicht für uns, allerdings für Extremradler möglicher Weise von Bedeutung: Roscoff bildet das westliche Ende der EuroVelo 4, die in Kiew beginnt oder endet – wie viele Kilometer das sind, ist leicht nachzurechnen, auch, dass wir nur einen Bruchteil dieser „Voie“ geradelt sind, ohne es zu wissen.
Unser Radler-Ehrgeiz ist aufgebraucht, nicht nur angesichts eines „EuroVelo 4“, sondern auch wegen der zunehmen Unverträglichkeit zwischen Hintern und Sattel. Nein, dies ist nicht der alleinige Grund, warum wir uns ein Auto leihen und von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, von Städtchen zu Städtchen, von Ort zu Ort zu springen und derart „upgedatet“ eine immense Fülle von Eindrücken auf uns wirken lassen können. Wir fühlen uns nicht wie „Ein Amerikaner in Paris“, wohl aber wie aktuelle asiatische Touristen in Europa: an einem Tag etwa gut ein Dutzend Monumente „machen“, im selben Maße Natur- wie auch Kulturdenkmale: die schöne, durch ein phantastisches Eisenbahnviadukt geschmückte Stadt Morlaix, typisch bretonische Dörfer mit ihren farbenprächtigen Häusern, Bunker der deutschen Armee, keltische Andenken, steile Klippen in tosendem Meer (Halbinsel Crozon) und den Blick in den wilden Atlantik von den Höhen der „Pointe de Pen-Hir“ aus. Ehe wir uns auf direktem Weg zurück machen in unser Domizil, kehren wir im Städtchen Crozon ein. Nicht besucht haben wir die Flecken zwischen Lorient und Saint-Nazaire, die durch dem unter Pseudonym schreibenden Krimi-Autor in nachfühlbarer Weise in seinen drei „Bretagne-Krimis“ illustriert wurden. Zu den von deutschen Krimifans überlaufenen und ausgetrampelten Pfaden des Kommissars Dupin zog es uns nicht hin. Auch wenn ich mit Genuss besonders die beiden Bücher „Bretonische Brandung“ und „BretonischesGold“ (Jean-Luc Banalec, Pseudonym eines deutschen Bretagne-Liebhabers, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch) gelesen habe und mich zeitweise von den Landschaftsbeschreibungen so fesseln ließ, dass ich anschließend nicht mehr wusste, war ich persönlich dort oder nur in der Phantasie.
Kleines megalithisches Lexikon: Menhir: aus der Jungsteinzeit stammende senkrecht aufgestellte Steine Dolmen: Steintisch, Decke einer auf senkrechten Pfeilern stehenden Grabkammer Stele: aufgerichteter, behauener Stein, zum Beispiel der Menhir bei Locmariaquer Cairn: Steinhaufen,der Grabkammern bedeckt, zum Beispiel der „Table des Marchands“ Cromlec`h: Steinkreis, Menhire, die im Kreis angelegt sind Alignement: Menhire, die in einer Reihe aufgestellt sind, zum Beispiel bei Carnac
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